Rudi Pawelka
Leben in Breslau, Flucht und Neuanfang in verschieden Orten in Westdeutschland
|
Meine älteste Tochter Nicole bat mich kurz vor Weihnachten 2016,
meine Fluchtgeschichte niederzuschreiben.
Ich komme diesem Wunsch hiermit gerne nach und hoffe,
dass damit auch für weitere Generationen deutlich wird,
was Vertriebene erleiden mussten.
Der familiäre Hintergrund.
Ich wurde an einem Ostersonntag am 24. März 1940 im Elisabeth-Krankenhaus in Breslau geboren. Meine Eltern gaben mir den Namen Rudolf. Fortan nannte man mich aber nur noch Rudi, auch in allen Ausweisdokumenten. Ich war das zweite Kind der Eheleute Herbert und Helene Pawelka. Mein Bruder Horst kam am 2. Februar 1937 zur Welt. Meine Mutter hatte den Mädchennamen Müller, geb. am 30. November 1915. Ihre Mutter hieß mit Mädchennamen Marie Schneider, wahrscheinlich 1878 geboren. Mutter und Großmutter stammten aus Breslau. Die Großmutter heiratete den aus Neustadt/Oberschlesien zugezogenen Paul Müller.
Mein Vater, Herbert Pawelka, wurde am 16. Juni 1912 in Breslau geboren. Seine Mutter trug den Mädchennamen Karkosch, der Vorname war ebenfalls Marie. Sie war gebürtig im westlichen Teil des Kreises Cosel in Oberschlesien. Es war das letzte Dorf, in dem neben deutsch auch wasserpolnisch gesprochen wurde. Weiter westlich war dies nicht mehr der Fall, wie mir bei einem Besuch in den 1990er Jahren von einem deutschen Bauern vor Ort gesagt wurde. Die Familie Karkosch betrieb eine Pferdezucht und eine kleine Brauerei mit angeschlossener Gaststätte. Die gezüchteten Pferde wurden von einer nahen Eisenbahnstation zum Verkauf nach Breslau gebracht. Hier unterhielt die Familie in der Ursulinenstraße einige Ställe zum zeitweiligen Unterstellen der Pferde. An der Straße stand auch ein Haus, in dem Marie Pawelka einige Jahre mit ihren drei Söhnen wohnte. Nach Erreichen der Volljährigkeit war sie nach Breslau gezogen. Wahrscheinlich war sie Jahrgang 1877. Ihr Ehemann Alfred Pawelka kam aus Reichthal, ca. 80 km östlich von Breslau. Das Geburtsdatum ist nicht bekannt. Das Städtchen Reichthal liegt im sogenannten Reichthaler Ländchen (Um 8.000 Einwohner) im Kreis Namslau. 1920 fiel das Gebiet ohne Abstimmung an Polen, obwohl es eine sehr große deutsche Mehrheit gab. Maßgeblich soll gewesen sein, dass dort drei Polen große Landgüter gekauft hatten. Aus der Ehe Pawelka gingen die Söhne Erich (geb. 1908), Herbert (geb. 1912) und Alfred (geb.1915) hervor. Da die Usulinenstraße im Kern der Innenstadt und unmittelbar an dem bekannten Hauptgebäude der Universität lag, war mein Vater noch bis in die Jugendzeit mit der Altstadt verbunden. Ein häufiger Spielplatz war der Fechterbrunnen vor der Universität. Haus und Grundstück mussten an die Stadt verkauft werden, da die exponierte Lage für eine soziale Einrichtung gebraucht wurde. Marie Pawelka verlor schon kurz nach dem 1. Weltkrieg ihren Ehemann (mein Großvater) infolge einer Erkrankung. Sie zog nach der Enteignung in die Gelhornstraße auf der anderen Seite der Oder. Die Straße liegt gleich hinter der Kaiserbrücke. Auf der selben Etage wohnte die Familie meiner Mutter. Mein Vater arbeitete als Klempner in dem Betrieb seines Bruders Erich.
Meine Großmutter mütterlicherseits, Marie Müller, brachte 16 Kinder zur Welt, für die damalige Zeit durchaus nicht selten. Nur vier von ihnen überlebten die Kindheit; Elisabeth (geb. 1911), Helene (geb. 1915), Gertrud (geb.1918) und Paul (geb.1919). Gertrud heiratete noch während des Krieges den aus Bleckede/Elbe (Kreis Lüneburg) stammenden Otto Gerhus, den sie in Breslau kennengelernt hatte, wo er sich wegen Verwundung in einem Lazarett aufhielt. Gertrud zog noch 1943 nach Bleckede.
Erinnerungen an Breslau.
Meine Eltern wohnten zunächst in der Schwertstraße nahe dem Freiburger Bahnhof. Erinnerungen hieran sind bei mir kaum vorhanden. Allerdings weiß ich von einem Unfall. Ich war die Kellertreppe hinuntergefallen, was einen Krankenhausaufenthalt erforderlich machte. Hierzu setzt eine gewisse Erinnerung ein. Es blieb übrigens eine Narbe an der Stirn zurück, gleich unterhalb des Haaransatzes.
Es muss noch im Jahr 1943 gewesen sein, als wir in die Vorwerkstraße umzogen. Die Erinnerungen an die Zeit in dieser Wohnung sind noch teilweise erhalten. Wenn ich aus dem Fenster im ersten Stock schaute, konnte ich die etwa 100 m entfernte Straßen-
bahnlinie sehen, die dort eine Kurve nach links zum Hauptbahnhof machte. Als ich im August 1990 mit einigen Freunden das erste Mal wieder in Breslau war, konnte ich, aus Ohlau kommend, anhand der Gleisführung Straße und Haus sofort finden. Alle Bauten gegenüber und die Häuser stadtauswärts links von uns waren den Kämpfen gegen die Rote Armee zum Opfer gefallen.
Da Breslau wegen seiner Lage unerreichbar für feindliche Bomber war, galt die Stadt als Reichsluftschutzkeller. Erst mit dem Näherrücken der Roten Armee fielen Ende 1944 die ersten Bomben. Während eines solchen Bombardements saßen wir mit unseren Großmüttern im Keller der Gelhornstraße und hörten, wie in der Nähe die Bomben einschlugen. Wir hielten uns des öfteren bei den Großmüttern auf. Entweder gingen wir zu Fuß (ca. 1,5 km) oder fuhren mit der Straßenbahn bis zur Haltestelle gleich hinter der Kaiserbrücke. Gute Erinnerungen habe ich an einen Kindergeburtstag im Sommer 1944, wozu ein langer Tisch im Hinterhof aufgebaut war. Wir Kinder tollten dann durch die offenen Häuser Vorwerkstraße 82 und 84. An einige lustige Szenen aus einem Kinderfilm „Fritze Bollmann wollte angeln gehen“ erinnere mich noch recht gut.
Die Flucht aus Breslau.
Wegen der vielen aus dem Westen gekommenen Schutzsuchenden und der aus dem Osten kommenden Flüchtlingstrecks sprach man davon, dass sich zeitweilig bis zu einer Million Menschen im Januar 1945 in Breslau aufgehalten haben sollen. Ende Januar 1945 erging der Befehl zum Verlassen der Stadt. Frauen und Kinder sollten sich zu Fuß auf den Weg nach Westen machen. Zehntausende befolgten dies, obwohl gerade zu dieser Zeit bis zu 20 Grad minus herrschten und die Straßen verschneit waren. Insbesondere hunderte Kinder überlebten dies nach vorliegenden Berichten nicht und mussten am Straßenrand abgelegt werden. Meine Mutter befolgte die Anordnung zum Verlassen Breslaus nicht. Ich bekam mit, wie eine große Unruhe die Stadt ergriffen hatte. An den Bahnhöfen spielten sich dramatische Szenen ab, denn Hunderttausende wollten raus aus der Festung.
Da der Hauptbahnhof schon am 6. Februar geschlossen wurde, ging meine Mutter mit uns zum Freiburger Bahnhof. Es gab wiederholt Bombenalarm, so dass wir dort zwei Tage ausharren mussten, ehe ein Zug los fuhr. Es soll der letzte Zug gewesen sein, denn die Sowjets hatten Breslau schon fast ganz umzingelt. In den Waggons drängten sich so viele Leute, dass alle eng an eng standen oder saßen. Ich erinnere mich genau an das Gefühl, als die Bahn Breslau verlassen hatte und ich noch einmal zurückblickte.
Bis in das 160 km entfernte schlesische Görlitz brauchten wir zwei Tage, da der Zug immer wieder stehen bleiben musste. Diese Situation nutzten dann russische Tiefflieger, um uns zu beschießen. Es gab eine Reihe von Toten und Verletzten. Meine Mutter hatte sich bei jedem Angriff über mich und meinen Bruder geworfen, blieb aber unverletzt. Wie ich später erfuhr, war der Grund für das Stehenbleiben das Vordringen der Roten Armee bis an die Bahnlinie. Erst nachdem die Rotarmisten zeitweilig von deutschen Soldaten zurückgeworfen werden konnten, fuhr der Zug weiter.
In Görlitz kamen wir zunächst in eine Turnhalle. Die an uns ausgeteilte Nudelsuppe war eine reine Pampe und wir Kinder hielten sie für ungenießbar. Wir aßen von dem, was wir noch aus Breslau hatten. Am nächsten Tag verteilte man die Flüchtlinge auf Privatwohnungen. Uns brachte man in das 12 km nördlich gelegene Penzig an der östlichen Seite der Neisse in das Haus einer jungen Frau. Ehe die Hauseigentümerin selbst auf die Flucht ging, bat sie meine Mutter, auf ihr Haus aufzupassen. Ich höre noch heute die Schussgeräusche von den nahen Kämpfen, vornehmlich wohl um das 22 km von Görlitz entfernte Lauban, das fast völlig zerstört wurde. Für uns folgte ein Schicksalsschlag, da meine Mutter bei einem Metzger bei hohem Fieber ihr Geld, die Lebensmittelkarten und alle Ausweise verlor. Es fanden sich glücklicherweise einige Menschen, die für uns Geld sammelten. Alle meine behördlichen Dokumente trugen fortan den Vermerk „Geburt nicht nachgewiesen“. Es gab nur die eidesstattliche Versicherung meines Vaters. Im Jahr 1998 besorgte mir eine bekannte polnische Professorin beim Standesamt in Breslau eine Geburtsurkunde in polnischer Sprache nebst einer Ablichtung der Seite aus dem Buch des deutschen Standesamtes über die Anmeldung meiner Geburt mit Unterschrift meines Vaters.
Görlitz selbst blieb von Kämpfen verschont, weil die Rote Armee von Lauban aus nach Norden Richtung Berlin eingeschwenkt war. Die Stadt wurde ohne Zerstörung erst Anfang Mai besetzt. Der Weg nach Westen war für uns offen. Allerdings hatten die meisten Flüchtlinge aufgrund ihrer Erlebnisse Angst, noch einmal einen Zug zu besteigen, so dass wir jetzt ausreichend Platz hatten. Die Fahrt ging nach Landshut/Niederbayern. Wie befürchtet, verhielten sich Briten und Amerikaner aber nicht anders als ihre sowjetischen Waffenbrüder. Wieder gab es erheblichen Beschuss durch Tiefflieger. Der Beschuss von Flüchtlingstrecks bzw. Flüchtlingszügen war auch schon zu dieser Zeit ein Kriegsverbrechen, geschah aber in großem Ausmaß. Wieder hatten wir Glück und überstanden die Fahrt unverletzt.
Wann wir in Görlitz abfuhren und wann wir am Zielort ankamen, ist nicht mehr genau festzustellen. Ich weiß nur noch, dass meine Mutter sagte, es sei im März 1945 gewesen. Jedenfalls erinnere ich mich noch an den hohen Schnee bei unserer Ankunft kurz vor meinem fünften Geburtstag. Die Organisation vor Ort klappte gut. Der Ortsgruppenleiter hatte Bauern mit Droschken an den Bahnhof beordert, die einen Teil der Ankommenden zu den umliegenden Dörfern fuhren. Wir landeten in dem Ort Ast auf einem etwas abgesetzten Bauernhof namens Schraham, der noch keinen Stromanschluss hatte. In dem Haus wohnten der Bauer, seine Mutter, eine 13-jährige Tochter und ein Sohn von 10 Jahren. Einquartiert waren schon eine Flüchtlingsfrau mit vier Kindern und zwei 26-jährige Frauen, die das Zimmer hinter uns bewohnten. Zwei polnische Arbeiterinnen lebten ebenfalls auf dem Hof.
Kurz vor Kriegsende zog eine größere Einheit deutscher Soldaten mit Panzern und schwerem Gerät zwei Tage lang durch das Gehöft, da hier ein Weg zum Wald führte.
Wenig später inspizierten mehr als 20 amerikanische Soldaten alle Gebäude. Bis auf den Offizier hatten alle eine schwarze Hautfarbe. Bis dahin hatte ich noch nie einen Schwarzen gesehen. Bei der Durchsuchung wurden ein paar SS-Stiefel gefunden, die von einem SS-Mann stammten. Er hatte sich dafür Eier und Speck geben lassen. Der Bauer sollte wegen des Fundes zunächst erschossen werden. Ich habe noch heute vor Augen, wie ihm ein Soldat im Wohnzimmer eine Pistole auf die Brust hielt, denn ich stand unmittelbar daneben. Erst als der Offizier ihm einen anderen Befehl gab, ließ er davon ab. Der Vorfall war für die Familie so gravierend, dass am Sonntag darauf weitere Familienmitglieder erschienen, um gemeinsam tränenreich zu trauern. Während der Durchsuchung standen plötzlich zwei Amerikaner auf dem Hof, die mit Gewehren auf zwei aus dem Wald kommende unbewaffnete deutsche Soldaten schossen. Offenbar hatten sie sich versteckt, um nicht in Gefangenschaft zu geraten. Getroffen wurde niemand, die beiden Männer waren hinter einer Bodenerhebung verschwunden und konnten trotz sofortigem Einsatz eines Jeeps nicht mehr gefunden werden.
Mit Kriegsende waren die Gefahren für uns aber noch nicht beseitigt. Die Besatzer hatten alle Gefängnisse und Zuchthäuser geöffnet, die ehemaligen Insassen vagabundierten durch das Land. Als wir in ein Nachbardorf gingen, weil es dort wieder Brot gab, sahen wir kurz nach dem Wald zwei von ihnen auf einem anliegenden Feld stehen. Wir nahmen deshalb auf dem Rückweg einen anderen Weg, der parallel dazu verlief. Die Männer entdeckten uns dennoch und liefen auf uns zu, vermutlich wollten sie uns die Brote wegnehmen. Wir rannten durch den nahen Wald vor ihnen weg. Als wir aufs freie Feld kamen, sahen wir sie nicht mehr. Dafür wurden wir sofort unter Granatenbeschuss genommen. Die Amerikaner schossen von einer Anhöhe von Landshut aus (heute Ausflugslokal), obwohl sie bei freier Sicht hätten erkennen müssen, dass meine Mutter mit zwei Kleinkindern unterwegs war. Immer wenn wir das Pfeifen eines Geschosses hörten, warfen sich meine Mutter, mein Bruder und ich uns auf den Boden. Es gelang, das in kurzer Entfernung liegende Bauernhaus zu erreichen. Eine Granate hatte allerdings einen Wagenschuppen beschädigt. Mit den umherliegenden Splittern spielten wir später. Der Vorfall ereignete sich zweifellos nach Kriegsende.
Kurz danach, ebenfalls im Mai, konnte ich plötzlich meine Knie nicht mehr bewegen.
Ein akuter Gelenkrheumatismus war die Ursache. Irgendwie gelang es, einen Arzt aufzutreiben, der auf einem Pferd angeritten kam. Da übliche Behandlungsmethoden nicht zur Verfügung standen, empfahl er, mich in die warme Sonne zu legen. Nach vielen Jahren erfuhr ich, dass diese Form des Gelenkrheumatismus meist Herzschädigungen nach sich zieht, was bei mir aber nicht eintrat. Mir wurde auch gesagt, dass die Krankheit oft durch einen entzündlichen Vorgang im Körper ausgelöst wird. Ich erinnere mich an meine entzündeten Ohren, die ich während der Flucht und danach hatte. Mein Bruder hatte dies ebenso. Die Entzündung war bei uns so stark, dass ständig Eiter aus den Ohren lief, der an den Ohrklappen unserer Mützen trocknete und die Lösung der Mütze jedesmal zur Qual machte. Meine Mutter führte die Entzündungen auf Giftgase zurück, die bei den Tieffliegerangriffen eingesetzt wurden.
Des Öfteren gingen wir nach Landshut zum Einkaufen. Die Entfernung soll 10-12 km betragen haben, da wir eine Hügelkette umgehen mussten. Durch das Dorf Tiefenbach gelangten wir an die nach München führende Landstraße entlang der Isar. Manchmal schliefen wir in Landshut bei uns bekannten Vertriebenen. Der lange Weg ist mir noch jetzt als ein Gräuel in Erinnerung.
Ortswechsel nach Bleckede/Elbe.
Im November 1945 erschien plötzlich mein mir überhaupt nicht mehr bekannter Vater auf dem Bauernhof. Er war nach einem halben Jahr Kriegsgefangenschaft von den Briten in Schleswig-Holstein kurz vorher entlassen worden. Über die in Bleckede wohnende Schwester meiner Mutter hatte er unsere Adresse erfahren. Ohne das für einen Wechsel von der amerikanischen in die britische Zone erforderliche Visum gelangten wir mit etwas Glück an unser Ziel Bleckede. Als wir in Kassel umsteigen mussten, erlebten wir dramatische Szenen. Auf den Bahnsteigen herrschte wegen der vielen Menschen Chaos, das die amerikanische Militärpolizei durch massiven Schlagstockeinsatz zu ordnen suchte. Die Bilder begleiteten mich noch lange. Von Lüneburg aus fuhr zu dieser Zeit eine Eisenbahn in das 24 km entfernte Bleckede und weiter nach Alt-Garge zu einem Kraftwerk der Hamburger Elektrizitätswerke. Die Entfernung von Bleckede nach Hamburg beträgt im Übrigen 66 km. Wir kamen in einer ehemaligen Pension unter, die für Sommerurlauber aus Hamburg gebaut wurde. Hier wohnte auch die Schwester meiner Mutter mit ihrem Mann Otto. Das Haus beherbergte fast 50 Bewohner, überwiegend Flüchtlinge, aber auch Ausgebombte aus Hamburg. Hier lebten wir bis 1950, bevor wir die Wohnung mit einer anderen Flüchtlingsfamilie tauschten. Jetzt hatten wir drei Zimmer im ersten Stock eines Bauernhauses.
Am 11. August 1946 wurde meine Schwester Brigitte geboren. Es muss im Jahr 1947 gewesen sein, als mein Vater erfuhr, dass seine Mutter Marie Pawelka und seine Schwiegermutter Marie Müller nach ihrer Vertreibung 1946 aus Breslau zusammen in einem Altenheim in der sowjetischen Zone unter erbärmlichen Umständen lebten. Mein Vater und Otto holten die Frauen unter abenteuerlichen Umständen über die grüne Grenze. Otto und Gertrud hatten inzwischen ein kleines Haus gebaut, das nur Behelfsheim genannt werden durfte, denn es war wegen der großen Wohnungsnot nur erlaubt, schnell zu errichtende Gebäude zu bauen. Das Haus war zur Tarnung auch mit Brettern verkleidet worden. Marie Müller wurde hier aufgenommen, während Marie Pawelka zunächst für einige Monate bei uns blieb, bis ihr ältester Sohn Erich sie zu sich nach Arnsberg nahm. Er hatte sich hier wieder selbstständig gemacht.
Jahre der Eingliederung in Bleckede und Bergisch Gladbach.
Die erste Unterkunft in Bleckede hatte einen gewissen Charme. Die ehemalige Pension lag auf einem kleinen Hügel am Waldrand. Wir konnten sogar einen Garten vor dem Haus anlegen. Bei gutem Wetter sah man die Elbe (war Zonengrenze), vor allem wenn ich durch das Fernrohr des häufig vor dem Haus sitzenden alten Kapitäns gucken durfte. Auch nach dem Umzug (keine 500 m von der Pension entfernt) waren wir wieder mit Vertriebenen zusammen, da fast jedes Haus in der kleinen Dorfstraße Vertriebene mit Kindern beherbergte. Gegenüber der einheimischen Bevölkerung waren wir wohl in der Mehrheit. Die Kleinstadt Bleckede hatte ca. 5.000 Einwohner, einen kleinen Bahnhof, ein Elbschloss, zwei Kinos und eine Volks- und eine Mittelschule. Von der Elbe zweigte ein fast 1 km langer Hafen ab, an dessen Einfahrt in einem abgegrenzten Teil auch Schulschwimmen durchgeführt wurde. Über den Hafen wurden ehemals wichtige Vorratsgüter herangeschaft, die im Wald in großen getarnten Bunkern während des Krieges gelagert wurden. Durch eine ebenfalls getarnte Ölleitung konnte man Treibstoffe vom Hafen in die Bunker pumpen, deshalb hieß die Anlage auch Ölhof. 1946 sprengten die Briten die riesigen unterirdischen Anlagen. Da der große Kiefernbestand für die Erholung von ehemals TBC-Kranken gut geeignet war, hatte man ein Erholungsheim am Ortsrand errichtet. Jedes Jahr fand ein Jahrmarkt und ein Schützenfest statt. In den ersten Jahren gab es sogar Umzüge der Vertriebenen mit Kundgebungen. Fast regelmäßig kam es zu größeren Überschwemmungen der Elbe, die sich bei fehlenden Deichen bis zu 2 km ins Land ergossen. Die evangelische Kirche stand alle 14 Tage sonntags auch den Katholiken zur Verfügung. Der Pfarrer kam aus dem 12 km entfernten Dahlenburg.
Man könnte sagen, wir lebten in einer Idylle, wenn nicht die soziale Not gewesen wäre.
Mit der Währungsreform im Juni 1948 wurde mein Vater, wie fast alle Vertriebenen, arbeitslos. Wir zahlten an den Bauern zwar nur 20,00 DM Miete, jedoch lag das Arbeitslosengeld für die fünfköpfige Familie nur zwischen 92,00 DM und 104,00 DM monatlich. Hin und wieder wurde mein Vater zu Notstandsarbeiten bei Aufforstungen beschäftigt. Die Briten hatten große Flächen mit Kiefernbeständen abholzen lassen und sie über unseren Hafen nach Großbritannien verschifft. Schon als kleiner Junge half ich mit, Geld zu verdienen. Ich verkaufte gesammeltes Altmetall, eine Unmenge von Blaubeeren und arbeitete bei Bauern (Heu-und Kartoffelernte und hackte Holz).
Am 1. April 1946 wurde ich eingeschult. Da ich am 24. März 1940 geboren bin, hatte ich Glück, denn es wurden nur Schüler aufgenommen, die bis zum 31. März 1940 zur Welt kamen. Ich war deshalb immer der Jüngste in der Klasse. Kaum einer war überhaupt aus dem Jahrgang 1940, da viele durch die Nachkriegsereignisse teilweise einige Jahre verloren hatten. In den Jahren 1946 und 1947 kamen immer mehr Kinder im Zuge der Vertreibungswelle in Bleckede an. Es war wohl den besonderen Umständen geschuldet, dass wir schon in der ersten Klasse 17 Sitzenbleiber hatten.
Ab April 1950 besuchte ich die städtische Mittelschule, die auch Schüler aus den umliegenden Ortschaften bis 14 km Entfernung aufnahm. Die Kinder fuhren mit dem Fahrrad nach Bleckede, nur von der größeren Gemeinde Dahlenburg fuhr ein Schulbus. Da die Schule nur eine Klasse pro Jahrgang hatte, wurde sie von nur gut 200 Schülern besucht. Obwohl eine zehntägige Aufnahmeprüfung zu bestehen war, schrumpfte unsere Klasse innerhalb eines Jahres von 54 auf 36 Schüler. Es war ein monatliches Schulgeld von 14,00 DM zu entrichten (Auswärtige 17,50 DM). Da meine Eltern dies nicht zahlen konnten, musste ich nach drei Monaten zu Hause bleiben. Der Rektor erklärte mir, dass ich nach drei Tagen nachfragen solle, ob seine Intervention bei der Stadt für mich Erfolg hatte. Der Vorgang ist für mich prägend. Es war zunächst gegenüber Freunden peinlich, denn ich schämte mich zu sagen, dass es um uns so schlecht stand; ich sprach deshalb von einer Krankheit. Schlimmer noch war der Gang nach drei Tagen zum Rektor. Der fast 2 km weite Weg war eine einzige Qual, die noch lange nachwirkte. Mein Schulleiter blieb für mich ein Beispiel, er hatte sich in einzigartiger Weise für mich eingesetzt und erreicht, dass ich bleiben konnte. Als mir ein Jahr später die Bezirksregierung wegen guter Leistungen eine Prämie von 200,00 DM zuerkannte, zog die Stadt allerdings das aufgelaufene Schulgeld ab, weil es nur gestundet war. Ein Jahr später erhielt ich, gleich anderen Bedürftigen, ein Bafög von monatlich 40,00 DM, reduziert um das Schulgeld.
Im ganzen Landkreis Lüneburg bestand nur ein Gymnasium in der Kreisstadt selbst. Für uns unerreichbar. Ich kannte auch niemanden, der dieses Gymnasium besuchte.
Da die Arbeitslosigkeit andauerte, fuhr mein Vater im Jahr 1952 auf einem alten Fahrrad über fast 500 km Landstraße nach Bergisch Gladbach, um sich Arbeit zu suchen. Hierhin hatte es seine Schwägerin mit ihrem Sohn verschlagen. Sie war die Frau seines im Krieg gebliebenen jüngeren Bruders. Auch ihr Halbbruder, ein alter Breslauer Freund meines Vaters, wohnte hier. Ein Jahr später folgte ihm mein Bruder, der in Bergisch Gladbach eine Lehre begann. Wie andere Vertriebene stellten meine Eltern einen Übersiedlungsantrag bei der Bezirksregierung Lüneburg. Es dauerte noch fast zwei Jahre, bis ein positiver Bescheid kam. Während in den ersten Jahren immer mehr Vertriebene in das völlig unzerstörte Bleckede gekommen waren, stellte sich jetzt das Gefühl einer schleichenden Vereinsamung durch den ständigen Wegzug von Freunden und Bekannten ein. Wir sehnten deshalb den Umzug immer stärker herbei.
Eines Tages erhielten wir Fahrkarten für einen Nachtzug, und ein Möbelwagen holte das spärliche Mobiliar ab, dessen wertvollste Stücke eine Couch und ein Küchenschrank waren, die wir von einer Hausratsentschädigung in Höhe von 800,00 DM gekauft hatten. Im November 1954 bezogen wir in Bergisch Gladbach eine Dreizimmerwohnung in einem neu erbauten Dreierblock mit 24 Wohnungen. Da fast nur Vertriebenen die Wohnungen zugewiesen wurden, ergaben sich schnell Kontakte. Ich schloss 1956 die Realschule ab. Da es immer noch galt, viele Anschaffungen zu machen, arbeitete ich stets in den Schul-ferien. In den dreiwöchigen Osterferien 1955 arbeitete ich, gerade 15 Jahre alt geworden, für 1,00 DM Stundenlohn bei der Baufirma Schmitter, in den Sommerferien für 20 Tage (ohne freien Tag) in der örtlichen Glaswattefabrik (Verdienst 258,00 DM) und vor Antritt meiner Lehrstelle für 14 Tage in der Papierfabrik Wachendorf. Ich ließ mich von meinem Vater dazu überreden, eine handwerkliche Lehre zu machen. Er sah darin eine gute Grundlage für schlechte Zeiten. Ich stimmte zu in der Absicht, ein Ingenieurstudium draufzusetzen. Der Lehrbetrieb war die Maschinenfabrik Berger an der Paffrather Straße. Ende September 1958 brach ich die Lehre ab, da ich schon lange gemerkt hatte, dass der Maschinenbau nicht meinen Neigungen entsprach. Am 1. Oktober 1958 trat ich in die Polizei des Landes NRW ein. Nach 41 ½ Dienstjahren wurde ich am 1. April 2000 als Leitender Polizeidirektor pensioniert.
Seit November 1961 wohne ich in Leverkusen. Ich bin seit Oktober 2009 verwitwet und habe drei verheiratete Kinder und vier Enkel.